Der Blindenstock ist mehr als ein Wegbegleiter

Auch in diesem Jahr fand der ehrenamtliche Selbstverteidigungs- und Selbstbehauptungskurs für die Frauengruppe vom Stuttgarter Blinden- und Sehbehindertenverband Württemberg e. V. unter Leitung von Ingolf Welte statt, der dem VfL Herrenberg angehört.
"Ich möchte persönlich dazu beitragen, dass Blinde und Sehbehinderte mehr Lebensqualität gewinnen und ohne Angst zu jeder Tages- und Nachtzeit ihren Wünschen und Bedürfnissen auch außerhalb ihrer eigenen vier Wände nachgehen können.“
Ziel der Schulung am Samstag, den 7. Oktober 2017 im Tagungszentrum vom Kommunalverband für Jugend und Soziales (KVJS) in Herrenberg-Gültstein war die Stärkung des Selbstbewusstseins, der Umgang mit Konfliktsituationen sowie ein sicheres Auftreten in der Öffentlichkeit. Blinde und Sehbehinderte dürfen keine Opfer werden, welche unter den Folgen von Attacken leiden müssen.
Sechzehn Frauen und ein männlicher Teilnehmer aus Herrenberg, Gärtringen, Böblingen, Stuttgart, Ravensburg, Ulm und Neu-Ulm erlernten in einer Ganztagesveranstaltung, dass sie aufgrund ihrer Sehbeeinträchtigung nicht schutzlos sind. Einige waren letztes Jahr schon dabei.
„Ich bin seit Jahren als ehrenamtlicher Trainer aktiv, aber diese Kurse sind für mich eine besondere Herausforderung. Lehrsätze wie - schaut her, ich mache es mal vor - entfallen völlig. Die Teilnehmer haben aber große Vorteile gegenüber Sehenden. Sie bemerken sich ihnen annähernde oder sie verfolgende Menschen, hören, riechen und fühlen besser und haben eine hohe Konzentrationsfähigkeit. Sie können sich vieles sofort vorstellen, nachmachen und wollen sich unbedingt alles merken, damit sie ab dem nächsten Tag auch wirklich besser geschützt sind.“
Die theoretische Schulung am Morgen befasste sich mit den Gründen für Provokationen und Übergriffen sowie der damit verbundenen Außenwirkung der Teilnehmer aus psychologischer Betrachtung. „Zum einen ist es ein Leichtes, die Beeinträchtigung am Blindenstock, Abzeichen, der dunkel gefärbten Brille, oder der sprachgeführten Blindenwegweisung mittels Smartphone zu erkennen. Zum anderen signalisiert aber unsere Außenwirkung durch geübt sicheres Auftreten, eine aufrechte Körperhaltung und eine Gesprächsherrschaft mit fester Stimme, die auch laut und bestimmt „nein, Finger weg“ rufen kann, dass man kein einfaches Opfer ist.“
Erzählt wurden dann die Vorkommnisse, denen die Teilnehmerinnen in der Vergangenheit schon ausgesetzt waren oder von denen sie bereits in ihren Freundeskreisen gehört haben.
Dazu wurden im nachmittäglichen praktischen Training Abwehrtechniken gegen Angriffe, pöbelnde Betrunkene und Diebstahlsversuche geübt. Mit Stühlen wurden bessere Sitzpositionen in der S-Bahn nachgestellt, wo der Blindenstock meist zusammengefaltet ist. Hier wurde aufgezeigt, dass sie den Stock jetzt als letztes Mittel gegen sexuelle Übergriffe als spitzkantige Stoß- oder Schlagwaffe verwenden können. Im Stehen und Laufen folgten einfach nachvollziehbare Techniken mit dem Langstock gegen Festhalten und ungewünschte Umarmungen. Den praktischen Abschluss bildeten Techniken, wenn der Blindenstock weggenommen wurde.
"Das stärkt, gibt Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit. Man schult seine Körperwahrnehmung und weiß, wie man sich in welcher Situation bewegen muss."
Abschließend besprochen wurde, dass realistisch betrachtet selbstverständlich nicht alles abgewehrt werden kann. Beispielhaft sind Angriffe mit Waffen oder ein schneller Taschendiebstahl kaum zu verhindern. Als Fazit stimmten aber alle zu, dass ihnen ein gutes Grundgefühl von mehr persönlicher Sicherheit vermittelt wurde.

Verfasser: Ingolf Welte, 08.10.2017