30.11.2010: Spaziergang durch die ewige Dunkelheit

Wolfgang Müssig ist seit fast zehn Jahren blind. Zusammen mit LKZ-Redakteurin Janine Damm ist er über den Weihnachtsmarkt gebummelt. (Foto: Ramona Theiss)

 

 

 

 

 


Riechen, Fühlen, Schmecken: Ein Bummel mit dem blinden Wolfgang Müssig über den Ludwigsburger Weihnachtsmarkt

Mit seinen Fingern fährt Wolfgang Müssig am Stand mit afrikanischen Dekorartikeln vorsichtig über den Schweif einer Zebra-Skulptur aus Holz. „Ist das Handarbeit?“, fragt der 38-Jährige. „Ja“, erwidert der Verkäufer. „Respekt“, kommentiert Wolfgang Müssig, „sehr filigrane Arbeit, sehr detailgetreu.“ Der Verkäufer hat die Begeisterung für die aus einem Holzscheit geschnitzten Tiere bemerkt und macht ihn auf eine 1,80 Meter große Giraffe aufmerksam. „Die schaue ich mir mal an“, sagt Wolfgang Müssig.

Doch daraus wird nichts. Er orientiert sich zwar an der Stimme des Verkäufers und geht am Verkaufsstand ein paar zaghafte Schritte nach links, in die richtige Richtung. Doch die Giraffe steht hinter der Theke, ist 40 Kilogramm schwer und kann nicht einfach hochgehievt und herübergereicht werden wie die 60 Zentimeter große Giraffe gerade eben oder die Räuchermännchen und Strohsterne an den Ständen vorher.

Sehen dank ertasten und beschreiben

Nicht fühlen und ertasten zu können heißt für Wolfgang Müssig nicht sehen zu können. Der Besigheimer ist seit fast zehn Jahren blind. Im Jahr 2001 sind nach einem Virus innerhalb von drei Tagen seine Blutgefäße im Augenhintergrund geplatzt.

Früher ging er gerne auf den Weihnachtsmarkt, um sich Deko-Ideen zu holen, die Weihnachtsbeleuchtung zu genießen, sich in Weihnachtsstimmung zu bringen. In den vergangenen zehn Jahren war er nur zwei oder dreimal auf Weihnachtsmärkten. Für ihn ist ein Besuch dort mehr Stress als Entspannung und Besinnung: Die Menschenmassen, die sich durch die Gassen aneinander vorbeischieben, so dass er seinen Blindenstock nicht ausklappen kann. Die Geräusche, die manchmal undefinierbar sind und ihn hochschrecken lassen. Die vielen Stimmen. Wie jetzt gerade am Glühweinstand. An den Tisch haben sich elf heitere Frauen gesellt, Arbeitskolleginnen aus Neckarsulm, die Fotos knipsen, miteinander anstoßen und laut schallend lachen. Für ihn hört sich das Lachen grell an: „Die Sinne, die noch funktionieren, sind sensibler geworden.“

Trotzdem gefällt ihm der Bummel über den Ludwigsburger Weihnachtsmarkt: Er spürt die Schneeflocken, die auf seine Wangen fallen. Er genießt den Punsch, der so herrlich nach Orange und Maracuja schmeckt. Und er liebt den Duft von frisch gebrannten Mandeln. Gestern war der leider nicht so intensiv: „Vielleicht liegt es an der Kälte, heute nehme ich kaum Gerüche war“, sagt Wolfgang Müssig. Dafür hört er am Wurststand das Brutzeln. Und er hört, wie eine junge Frau auf dem nassen Holzboden vor einer Hütte ausrutscht.

Manche Dinge bleiben für immer im Dunkeln

Begeistert ist er von dem Stand mit den Christbaumkugeln. Besonders gut gefällt ihm ein blaues Polizeiauto mit Sirene und schneebedecktem, glitzernden Dach. „Das würde ich mir kaufen, wenn ich einen Christbaum machen würde.“ Auch „schön“ findet er die liebevoll mit Gold und Strasssteinen verzierten Herzen.

Ungewöhnlich still und nachdenklich, wird der 38-Jährige am stand mit australischen Fensterhängern, Flaschenverschlüssen und Schalen. Alle hergestellt aus australischen Pflanzen, die es hierzulande nicht gibt.

Auch Wolfgang Müssig hat die an Tannenzapfen erinnernden Pflanzen noch nie gesehen. Trotz Beschreibungen und ertasten – die Kombination aus beidem hilft ihm im Alltag, sich ein Bild zu machen und Dinge zu sehen – fällt es ihm schwer, sich diese australischen Gegenstände vorzustellen. „Schauen wir weiter?“, fragt er. Und sagt ein paar Minuten später: „Manche Dinge kann man halt einfach nur mit den Augen sehen – und nicht nur mit Ohren und Händen.“

Quelle: von Janine Damm, Ludwigsburger Kreiszeitung