20.11.2010: Blind - wenn jeder Weg im Dunkeln liegt

TROSSINGEN - Seit fast 34 Jahren ist die Trossingerin Anna Kupferschmid blind. Erledigungen ohne Begleitung sind für sie deshalb mit besonderen Schwierigkeiten verbunden. Eine Mobiltiätsschulung mit Trainerin Anjo Malice-Scheidler soll die 74-jährige Frau jetzt unabhängiger, flexibler und selbständiger machen.

Es ist dunkel, stockdunkel. Ich sehe nichts, gar nichts. Ich bin blind. Hilflos taste ich mit dem Blindenstock umher und versuche, mich zu orientieren. Vergebens. Immer wieder stoße ich auf Hindernisse und habe keine Ahnung, welche es sind. Weder kann ich ertasten, wo ich bin, noch kann ich hören, in welcher Richtung die Autos in der Hauptstraße an mir vorbeirauschen.

„Wo sind wir? Was hören Sie?“

Die Fragen von Trainerin Anjo Scheidler kann ich nicht beantworten und schäme mich ein wenig. Die anderen lachen – Gott sei Dank! Ich nehme die verdunkelte Brille ab und kann endlich wieder sehen – der wagemutige Selbstversuch ist beendet. Er hat mir gezeigt, wie schwer man in einer „Welt der ewigen Dunkelheit“ zurechtkommt. Für Anna Kupferschmid dagegen ist es harte Realität. Sie muss und sie will sich zurechtfinden. Fast 13 Jahre lang hatte sie einen Blindenführhund, damals wohnte sie noch in Talheim. „Danach war mein Mann Dieter mein Blindenhund“, lacht sie. Jetzt, in Trossingen, müssen zu ihrer eigenen Sicherheit alle wichtigen und alltäglichen Wege abgelaufen werden. Deshalb hat Anna die Mobilitätstrainerin aus Volkertshausen gebucht, die solche Schulungen vom Allgäu bis in den Schwarzwald anbietet. Die Kosten übernimmt meist die Krankenkasse.

Heute steht der Weg zum Arzt auf dem Trainingsplan. Schwierig, denn eine Baustelle versperrt den direkten Zugang. „Jeder Weg ist anders, auch jeder Rückweg“, betont die Trainerin. Los geht’s.

Wo geht's hier zum Arzt?

Die „Schülerin“ voraus, die Lehrerin hinterher. Unaufhörlich rasseln die kleinen weißen Rollen am Ende der Stöcke, die eigentlich Blindenlangstock heißen, hin und her. So erkennt man Hindernisse, Stolperfallen und taktile Leitlinien. Das können die Hauswand, der Straßenrand, ein Schild oder die Ampel sein, aber auch der Verkehrsfluss, der über das Gehör interpretiert wird. Inzwischen haben wir die Hohnerstraße erreicht. Etwa fünf Meter weit tastet sich Anna am Bordstein vom Kreuzungsbereich weg, um eine sichere Distanz zu abbiegenden Fahrzeugen und damit den ungefährdeten Übergang zu gewährleisten. Doch auf der anderen Seite lauert schon die nächste Gefahr: die Fußgängerampel über die Hauptstraße. Die ist zwar als Bedarfsampel installiert, für Blinde aber viel zu leise eingestellt. Durch Knopfdrücken wird ein akustisches und taktiles Signal angefordert. Endlich ist grün, und Anna marschiert los. Mit dabei ist Heinz Birk, ebenso ehrenamtlich im Blinden- und Sehbehindertenverband engagiert wie Anna Kupferschmid. Er ist zwar nicht völlig blind, macht aber die Lektionen fleißig mit. „Übung kann nicht schaden“, sagt er. Gemeinsam wird die Hauptstraße nun überquert, ständig gibt Anjo Scheidler Tipps, stellt Fragen, korrigiert und fragt erlerntes Wissen ab. Nach einem kurzen herzlichen Plausch mit einem alten Bekannten biegen wir in die Ernst-Hohner-Straße ein.

Achtung: Engstelle!

Die Autos parken hier halb auf dem Gehweg. „Achtung!“ ruft die Trainerin. Anna tastet die schwierige Engstelle zwischen Gartenzaun und Pkw ab. „Da stehen Autos“, bemerkt sie richtig. Vorsichtig geht sie weiter, und wieder naht eine Kreuzung. Dieses Mal ohne Ampel, dafür aber mit einer abgeschrankten Baustelle und einem Bagger mitten im Weg. „Da müssen wir außen rum“, rät Trainerin Anjo. Auch mit Lob geizt sie nicht, wenn alles klappt. „Gut gemacht.“ Anna erreicht das Ärztehaus. Sie weiß schon, wo der Aufzug ist und so sind die letzten Meter kein Problem für sie. Geschafft! Ganz genau wird anschließend auch der Rückweg einstudiert, denn der Weg zum Arzt gehört für die blinde Trossingerin mit dem herzlichen Humor zum Alltag. „Ich bin schon ein bisschen stolz, dass ich den Weg so gut absolviert habe“, sagt sie beim abschließenden Gespräch in ihrer gemütlichen Küche. Und stolz kann sie auch sein. Keiner weiß das besser als ich, und in diesem Moment bin ich unendlich dankbar und glücklich, dass ich bei meinem Selbstversuch nur für wenige Augenblicke die Welt der Blinden erleben musste.

Für Anna Kupferschmid und ihre Trainerin stehen aber die nächsten Lektionen schon fest. Der Weg zur Apotheke, in die Bäcker und in die Metzgerei. Ganz wichtig ist für Anna auch der Gang zum Friseur. Denn auf Denn auf ihr Äußeres achten sie und ihr Mann Dieter stets. Blindsein hin oder her. „Gesehen wird man ja trotzdem“, stellt die 74-jährige fest. Und da ist wieder ihr erfrischendes Lachen, das sie trotz ihres schweren Schicksals immer behalten hat.

Quelle: von Harry Pfriender, Schwäbische Zeitung