Bei leichtem Nieselregen machten sich am Samstag 24. September 2022, 20 Personen, also Mitglieder der Bezirksgruppe Stuttgart und ehrenamtliche Begleitpersonen, auf den Weg zu einer besonderen Stadtführung. Veranstaltet wurde sie von der Obdachlosenzeitung Trott-war, die mit dem Verkauf und den Stadtführungen sozial beitragspflichtige Arbeitsplätze für ehemals wohnungslose Menschen geschaffen hat. Treffpunkt war am Charlottenplatz um 11:00 Uhr. Herr Schuler, der selbst viele Jahre obdachlos gewesen ist, begleitete uns bei der Tour. Er zeigte uns Stuttgart aus einem anderen Blickwinkel. Als zwischenzeitlich 20 Jahre trockener Alkoholiker, erzählte er uns von seinem mörderischen Alkoholkonsum, der zu seinen übelsten Zeiten drei Flaschen Wodka pro Tag betragen hat. Um dies zu finanzieren, musste er entweder betteln, tageweise arbeiten oder „einkaufen“. Ein Schicksalsschlag hat den gelernten Koch sozusagen über Nacht von Freiburg nach Stuttgart und in die Obdachlosigkeit gebracht. Er erzählte von seinen schwierigen familiären Verhältnissen, dass es dort viele Alkoholiker gab, was nicht spurlos an ihm vorüberging. Er möchte jedoch nicht, wie viele andere, die Schuld dafür nur bei den anderen suchen. Letztendlich zählt, dass der heute 57-jährige eine Arbeit hat, in der er aufgeht und eine Wohnung hat und sich wohl damit fühlt. Angelangt an der Leonhardskirche, berichtete er von der Besonderheit dieses Gotteshauses, das einige Monate im Jahr als Vesperkirche genutzt wird. Die Bänke werden entfernt, und so können viele sozial benachteiligte Menschen wenigstens einmal am Tag ein warmes Essen bekommen. Nicht alle Vesperkirchen waren zu Zeiten von Corona geöffnet. Jedoch gab es bei der Leonhardskirche weiterhin wenigstens ein Essen to go. Das dortige Angebot umfasst aber normalerweise auch ärztliche Hilfe, einen Friseur, einen Tierarzt sowie Fußpflege, was für Obdachlose, die ja zu Fuß unterwegs sind, sehr wichtig ist. Menschen, wie der Kabarettist Christoph Sonntag oder die Frau unseres Landesherrn, Gerlinde Kretschmann, engagieren sich sehr für diesen Personenkreis. In Zusammenhang mit Wohnungslosigkeit erfuhren wir, dass die fatale Situation auf dem Wohnungsmarkt in Stuttgart derzeit eine Wartezeit von zwölf Jahren auf eine Sozialwohnung zur Folge hat.
Das Ende der Führung war an der Paulinenbrücke. In der Nähe gibt es ver-schiedene Angebote für die wohnungslosen Menschen, oft nach Geschlechtern getrennt. Auch für Kinder und Jugendliche gibt es eine besondere Zuflucht, „Schlupfwinkel“ genannt, wo sie Essen und Getränke bekommen, aber auch in Ruhe chillen oder lesen können. Diese Möglichkeit besteht aber nur tagsüber und umfasst natürlich auf Wunsch auch Beratungsmöglichkeiten zu Mobbing in der Schule, Sucht oder Probleme im Elternhaus usw. Derzeit gibt es offiziell ca. 150 obdachlose Kinder und Jugendliche in Stuttgart. Die Dunkelziffer liegt aber sehr viel höher. Aufgrund der Jugendschutzmaßnahmen kontaktieren die Kinder und Jugendlichen noch seltener offizielle Stellen, da die Sorge besteht, wieder zu den Familien zurückgeschickt zu werden oder ins Kinderheim zu kommen.
Bei den unterstützenden Angeboten für erwachsene obdachlose Menschen erhält man Informationen zu Übernachtungsmöglichkeiten, Kleidung und Hygieneartikel, aber auch eine Karte, auf welcher zum Beispiel immer für drei Tage die Hilfe zum Lebensunterhalt aufgeladen wird. An einem speziell dafür vorgesehenen Geldautomat kann dann jeweils der Betrag von der Karte abgehoben werden. Dies ist natürlich auch ein Schutz, dass nicht alles gleich in Alkohol oder andere Drogen umgesetzt wird und soll auch vor Diebstahl schützen. Offiziell gibt es in Stuttgart über 900 betroffene obdachlose Menschen, jedoch laut Herrn Schuler inoffiziell sicher um die 9000 Wohnungslose in der Stadt. Ebenfalls in der Nähe der Paulinenbrücke gibt es die Franziskanerstube, in welcher die Ordensschwester Margret schon viele Jahrzehnte ein Frühstück für die Obdachlosen ausgibt. Schon vor 30 Jahren war sie im Café La Strada für die Prostituierten der Straße aktiv, in welchem ich, im Rahmen meines Studiums der Sozialarbeit, für ein halbes Jahr mitgearbeitet hatte.

Diese besondere Stadtführung kann ich sehr empfehlen. Sie erweitert allemal den Horizont und gibt Einblicke in andere Lebenszusammenhänge. Wir danken Herrn Schuler für seine Offenheit und auch für seine wortreiche Beschreibung, welche die Stadtführung für uns sehr nachvollziehbar und lebendig gemacht hat.

Verfasst von Bianka Haacker