Ich war schon lange nicht mehr in der Staatsgalerie in Stuttgart. Jetzt wäre ich erst recht nicht auf die Idee gekommen, sie wieder einmal zu besuchen. Wenn man sehbehindert oder blind ist, fragt man sich, ob es Sinn macht, vor Gemälden oder Skulpturen zu stehen und sich alles erklären zu lassen.
Die Mitglieder der Bezirksgruppe Rems-Murr hatten am 30. September 2023 die Möglichkeit, an einer „Tastführung“ teilzunehmen. Wir waren eine kleine Gruppe Interessierter, vielleicht auch Neugieriger, mit Verstärkung aus dem Ostalbkreis und fast alle mit einer Begleitperson.
Das große, wegen seiner Architektur von außen sehenswerte Gebäude, bestehend aus Alt- und Neubau, hat einen weitläufigen Treppenaufgang. Innen erwarten die Besucher lichtdurchflutete Flure mit großen Fenster und hohe, dunkel gehaltene Räume voller Kunstschätze.
Eine freundliche Führerin begrüßte uns und jeder Teilnehmende bekam ein Paar dunkle Handschuhe zum Anziehen.
Zuerst durften wir in der Werkstatt verschiedene Gesteinsarten anfassen. Unsere Führung „Zwischen Ideal und Abstraktion“ beschränkte sich auf Skulpturen und begann mit „Bildern“ eines Künstlers, die aus Marmor gehauen wurden. Unsere Führerin erzählte, was auf den großen, rechteckigen Marmortafeln aus dem frühen 18. Jahrhundert dargestellt war.
Sehenswert, bzw. für uns und die Begleitpersonen „ertastenswert“, sind die drei Kunstwerke, von Philipp Jakob Scheffauer vor allem, weil die Figuren bis ins kleinste Details gearbeitet sind. Es war faszinierend, wie gut man die bloßen Füße, jede einzelne Zehe, mit den Fingern fühlen konnte, oder auch die Falten eines Gewandes. Schon allein durch ihre Größe beeindrucken die vier Bronzereliefs, die wir im Anschluss ertasten konnten. Auf diesen ist jeweils der Rücken einer Frau erkennbar. Während die erste Rückenansicht noch ganz wahrheitsgetreu dargestellt ist, wird sie auf den folgenden drei Tafeln immer weniger gegenständlich ausgearbeitet. Henri Matisse, französischer Bildhauer, der vor allem als Maler bekannt ist, ging „mit der Zeit“ in der er lebte, und entwickelte sich dem damaligen Kunststil entsprechend weiter.
Draußen im Freien konnten wir eine massige Figur aus hellem Stein ertasten, die auch verschiedene Kunststile aufweist.
Am Ende der Führung stand und ertasteten wir eine Skulptur von Max Beckmann, die Adam aus der Bibel darstellt, der sich aus einer Rippe seine Frau Eva erschaffen hat. Die Schlange, die später Eva zum Probieren des Apfels verführen wird, windet sich um Adams Körper.
Was mich während der ganzen Führung begeistert hat, war die Möglichkeit, dass wir mit den Fingern in Handschuhen Material und Formen fühlen und spüren durften, während für Sehende gilt: „Finger weg - Anfassen verboten!“. Man erfährt die Kunstwerke, die mit großem Können, viel Zeit und Kraft entstanden sind, anders, als wenn man sie buchstäblich „begreifen“ kann. Dabei sind es einmalige Werke mit einem Wert in Millionenhöhe.
Anschließend saßen wir alle in der Werkstatt um selbst gestalten und tätig werden zu können. Unsere Aufgabe bestand darin, dass wir eine Masse weich kneten und zu einem Kopf formen sollten, mit einer Nase im Gesicht und mit Hilfe eines Spatels Augen, Mund und Haaren. Nach all dem, was wir zuvor mit den Händen „gesehen“ hatten, kam mir „mein Werk“ stümperhaft vor.

Gerlinde Brühl