Ungewöhnliche Aktion: Blinde fahren Auto

Ohne Sehkraft hinterm Steuer: Ein besonderes Angebot mit Fahrlehrern auf dem Übungsplatz der Kreisverkehrswacht macht's möglich. Die rund 40 Teilnehmer hatten reichlich Spaß.

Ohne Sehkraft ein Auto lenken: Mit Hilfe klarer Anweisungen von Fahrlehrer Wolfgang Fischer steuert Franz Butscher den Automatikwagen. Er fährt mit 78 gerade erstmals selbst ein Auto. Foto:  Mario Berger

Als er nach dem Rundkurs aus dem Fahrersitz des VW steigt und sich mit seinem Blindenstock Richtung Gehweg tastet, hat Dieter Ott etwas ganz Besonderes geleistet. Der 100-prozentig blinde Mann hat gerade auf der Übungsanlage der Kreisverkehrswacht am Wartberg im Beisein eines Fahrlehrers allein einen Wagen gesteuert. "Das war toll. Das war Freiheit", sagt der 43-Jährige Fellbacher, der nie einen Führerschein besaß. Er wollte "einfach wissen, wie es sich anfühlt". Das Schwierigste sei, "erst einmal das Gefühl für Gas und Bremse zu kriegen".

Nach der Uhrzeit lenken 
Es ist eine ungewöhnliche Aktion der Heilbronner Gruppe des Blinden- und Sehbehindertenverbandes. Ziel ist, Perspektivwechsel zu bieten, Blinden zu ermöglichen, auch mal ein Auto zu führen. Wie das funktionieren kann? Als der Talheimer Franz Butscher (78) in den Automatik-Wagen steigt, erklärt Fahrlehrer Wolfgang Fischer das Prozedere. Er gibt Kommandos mit Uhrzeiten, die angeben, wohin Butscher das Lenkrad ziehen muss. 12 Uhr ist geradeaus fahren, 9 Uhr stark nach links lenken, 3 Uhr stark nach rechts.
In der ersten Kurve muss Butscher noch nachfassen, dann klappt es immer besser. "Jetzt Bremse und Gas bedienen, vorsichtig wie mit rohen Eiern", rät Fischer. Auf den Geraden gibt Butscher Gas, er darf auch mal kräftig in die Eisen steigen. "Super", lobt Fischer. Am Ende spricht der 78-Jährige von einem tollen Gefühl. Sonst fährt ihn seine Lebensgefährtin. Und "sie fährt gut".

Nie den Führerschein gemacht
Gut 40 Teilnehmer nutzen das Angebot, einige fahren sogar zweimal. "Richtig gut" fühlt sich die Heilbronnerin Kerstin Kramer nach der Tour. Sie hat nie den Führerschein gemacht. "Es hat unheimlich Spaß gemacht". Sie habe kräftig Gas gegeben und gut umgegriffen, lobt Sohn Kevin seine Mutter. Er saß hintendrin, auch für ihn war es in der Konstellation eine Premiere.
Vier Fahrlehrer assistieren an der Seite, auch sie sind angetan. "Es hat bei allen geklappt. Einige sind sogar bis zu Tempo 40 gefahren", bestätigt Wolfgang Fischer. "Das macht auch uns Spaß", sagt Fahrlehrerkollege Ulf Eckardt. Die Teilnehmer seien "sehr dankbar".

Ein Problem für Blinde und Sehbehinderte: Elektroautos sind so leise, dass sie von ihnen am Straßenrand kaum gehört werden. Der Verband fordert akustische Signale. Foto:  Mario Berger

Warnung vor geräuschlosen Stromautos im Alltag
So groß die Glücksgefühle hinterm Steuer waren, so ernst ist für den Verband das Problem mit geräuscharmen Elektroautos. Wenn Blinde und Sehbehinderte am Straßenrand stehen, hören sie die extrem leisen Wagen kaum. Ein Test auf dem Gehweg der Übungsanlage zeigt: Ein Wagen des TÜV, der mit Tempo 18 vorbeifährt, erzeugt erst kurz vorher ein ganz leises Rauschen.
"Wagen mit Motor hört man von Weitem. E-Autos nicht", weiß Bezirksgruppenleiter Wolfgang Heiler. Selbst ein Fahrradfahrer, der zum Vergleich die gleiche Runde dreht, macht bei dem Test mehr Geräusche mit dem Rad. In einer nächsten Runde überquert Heiler mit dem Blindenstock die Fahrbahn. Als er wieder zurück will, zögert er. "Ist der schon durch?" Das E-Auto steht zwei Meter vor ihm. Loslaufen wäre in dem Fall riskant.
Heiler verweist auf die Forderung des Verbandes, die Stromautos mit akustischen Signalen auszustatten. Auch bei Elektro-Bussen sei es ein Problem, weil Sehbehinderte sie an der Haltestelle gar nicht hörten und erst einmal sitzen blieben. Erst 2021 soll auf Beschluss der EU eine Änderung kommen. Heiler hofft, dass die Autohersteller vielleicht doch schon früher an Blinde am Straßenrand denken.

Blinde mit Instruktor vor dem Modell einer Ampel