14.08.2017: „Wir haben zehn Augen“

Inklusion
Ewald Löw und Bettina Röck klären Schüler als Tandem über blinde und sehbehinderte Menschen auf. Selbstversuche und die Demonstration von Hilfsmitteln sorgen für Aha-Effekte. 
Von Anke Kirsammer

Das Gehen mit dem Blindenlangstock will gelernt sein. Ewald Löw erklärt den Zweitklässlern der Unterlenninger Lindenschule, auf was sie achten müssen.
Vorsichtig tasten sich die Kinder mit Blindenlangstöcken über den Schulhof. „So breit, wie euer Körper ist, müsst ihr auf dem Boden immer hin und her wischen“, sagt Ewald Löw. „Spürt ihr das raue Gitter und dann den Fußabstreifer? Da wird es ganz leise. Auch im Straßenverkehr müssen wir mit allen Sinnen unterwegs sein.“ Mit Brillen auf der Nase, durch die sie Farben und Umrisse nur schemenhaft erkennen, bekommen die Schüler der Klasse 2a der Unterlenninger Lindenschule ein Gespür dafür, was es heißt, nichts oder nur wenig zu sehen.

Regelmäßig besucht der Leiter der Bezirksgruppe Nürtingen-Kirchheim des Blinden- und Sehbehindertenverbands Ewald Löw mit seiner Stellvertreterin Bettina Röck Schulen, um Kinder für ihre Behinderung zu sensibilisieren. „Es geht mir um das Thema Inklusion“, sagt der 56-Jährige, der vor 18 Jahren durch einen Arbeitsunfall seine Sehkraft fast komplett verloren hat. „In meinem früheren Leben war ich Zimmermann. Das Haus dort drüben habe ich zum Beispiel gebaut“, erzählt er den Schülern und erklärt, dass es einen Unterschied gibt zwischen Menschen, die gar nichts sehen, und denen, deren Augenlicht nicht ganz erloschen ist. „Wir Sehbehinderten sind die Könige unter den Blinden“, sagt er.

Der trockene Humor des Bruckeners lässt das Eis schnell schmelzen. „Wisst ihr, wer unsere besten Freunde sind? - Was ist denn heute für ein Tag?“, fragt er und blickt in stutzige Gesichter. „Heute stehen auf den Gehwegen überall Mülleimer. Ihr glaubt gar nicht, wie viele ich von denen schon in den Arm genommen habe.“ Die Kinder lernen die Bedeutung der gelb-schwarzen Armbinde. Zwei Punkte oben ist das Zeichen für eine Sehbehinderung, Hörbehinderte tragen die beiden Punkte unten. „Das habe ich auch nicht gewusst“, so die Reaktion der Klassenlehrerin Elisabeth Dörr. Sie hat die beiden Vertreter des Blindenverbands im Rahmen der Unterrichtseinheit „Sinne“ eingeladen. „Wir haben mit dem Auge angefangen. Da passt das heute sehr gut“, sagt sie.

Die Doppelstunde ist so abwechslungsreich gestaltet, dass es den Kindern keine Minute langweilig wird. In einem Stoffbeutel dürfen sie den Inhalt ertasten. Es braucht eine Weile, bis sie fühlen, was in den Säckchen ist. Eda meldet sich. „Ich habe zwei Sachen erkannt. Reis und Nudeln“, sagt sie stolz. Ewald Löw hebt seine Finger in die Höhe und erklärt den Mädchen und Jungen, dass blinde Menschen „zehn Augen“ haben. „Meine Frau regt sich auf, weil ich immer alles anfasse.“ Weil das Einkaufen auf diese Art mühsam ist, greift der 56-Jährige auf den schlauen Einkaufsfuchs zurück, der vier Millionen Produkte am Strichcode erkennt. Eine schnarrende Stimme ertönt: „Mineralwasser - mit wenig Kohlensäure - 0,5 Liter“. Für Verblüffung sorgt Ewald Löw auch mit seiner Uhr und einem sprechenden Maßband. Die Kinder erfahren, dass Rillen und Noppen auf dem Gehweg Blinde auf eine Straßenüberquerung hinweisen und ihnen die Pfeile auf den gelben Kästchen bei Fußgängerampeln die Laufrichtung anzeigen.

Nach einem Crashkurs in der Blindenschrift, der Braille, in der die Kinder auch ihren eigenen Namen ausknobeln dürfen, kommt der große Auftritt von Kojack - dem Blindenhund von Bettina Röck: „Wenn er sein Führgeschirr anhat, ein weißes Geschirr mit einem roten Kreuz, weiß er, jetzt muss er arbeiten. Dann darf er nicht angefasst werden“, erklärt Ewald Löws Stellvertreterin im Blinden- und Sehbehindertenverband. Sie erzählt, dass Kojack eine monatelange Ausbildung hinter sich hat und ziemlich teuer ist. Mit offenen Mündern verfolgen die Kinder, wie Kojack die blinde Frau die Treppe hoch- und sicher wieder hinunterführt. Dann, nach weiteren bravourös gelösten Aufgaben und mehreren Leckerlis, bekommt er das Geschirr ausgezogen und die Kinder dürfen ihn streicheln. - Dieser Abschluss des Schultags schlägt sogar die Gummibärchen, die Ewald Löw den Einkaufsfuchs mit schnarrender Stimme ansagen lässt.

Der Hund lockert alles auf
Warum gehen Sie an Schulen?
Ewald Löw: Wir haben gemerkt, Kinder gehen unvoreingenommen mit uns um und verbreiten, was sie von uns erfahren. Ein Mädchen aus einer Förderschule hat seiner Mutter nach einem Besuch von mir erzählt, da sei so ein Halbblinder in der Schule gewesen. Das ist doch super. Man sieht, da bleibt was hängen. Schön ist auch, wenn man nach so einem Besuch von den Schülern gegrüßt wird.
Wie erleben Sie den Umgang mit Erwachsenen?
Löw: Erwachsene können oft die Hemmschwelle nicht überwinden, mit uns in Kontakt zu treten. Deshalb müssen wir als behinderte Menschen rausgehen und zeigen, mit uns kann man ganz normal umgehen.
Auf den Hund springen die Kinder besonders an. Ist das immer so?
Ja, der lockert alles auf. Egal, ob wir zu jüngeren Schülern gehen oder zu älteren. Wir arbeiten regelmäßig auch mit jungen Erwachsenen, die gerade einen Bundesfreiwilligendienst absolvieren. Sie freuen sich alle, wenn sie den Hund streicheln können. Wenn die Teilnehmer lachen und strahlen, haben wir alles erreicht, was wir erreichen können.
Wie sieht die Finanzierung aus?
Ich gucke derzeit, dass wir an Fördergelder kommen, weil wir den Besuch an Schulen intensivieren möchten. Jedes Kind bekommt einen persönlichen Ordner mit. Das kostet natürlich Geld, ist aber sicher eine schöne Erinnerung.

Quelle: Archivartikel vom 20.07.2017 aus "Der Teckbote" von Anke Kirsammer