Veranstaltung „Licht aus Sinne an“, Hineinfühlen in den Alltag eines Blinden

Meine Augen sind geöffnet, doch ich sehe: absolut nichts. Komplette Dunkelheit herrscht um mich herum, nicht einmal die sprichwörtliche Hand vor Augen ist zu sehen. „Achtung, ihr Getränk steht auf zwei Uhr“, sagt plötzlich jemand und stellt das bestellte Getränk auf dem Tisch vor mir ab.

Mit rund 40 anderen Personen befinde ich mich auf der Veranstaltung „Licht aus  - Sinne an“ -  einem Dunkeldinner im Landhotel Gasthof Krone in Kupferzell-Eschental, das in Zusammenarbeit mit dem Blinden- und Sehbehindertenverband Württemberg e.V., Sektion Heilbronn entwickelt wurde. Das Ziel: Sehende sollen sich durch ein Essen in völliger Dunkelheit auf die Erfahrung einlassen, wie es täglich blinden Menschen ergeht und auf diese Weise ein besseres Verständnis für Menschen mit dieser Behinderung erlangen.

Zum bereits zweiten Mal veranstaltet der Gasthof Krone dieses Event, der heutige 3. Februar 2013 bildet den Abschluss der diesjährigen Reihe.  Mehr als 540 Personen haben in den vergangenen 12 Veranstaltungstagen teilgenommen, in denen es insgesamt 12 Veranstaltungen abends vier Mittagsveranstaltungen für Schulklassen gab. „Die Schüler waren wirklich sehr begeistert“, sagt Marco Rudolf, Serviceleiter des Dunkelrestaurants in der Krone. „Sie haben auch sehr viele interessierte Fragen gestellt, mehr noch als die Erwachsenen“.

Die Idee zum Dunkeldinner kam durch Küchenchef Jens Kirchenwitz, der bereits seit vielen Jahren mit Behinderten arbeitet. Mit Hilfe des Blinden- und Sehbehindertenverbandes konnte die Idee in die Tat umgesetzt werden.

An diesem Abend sind neben den Gästen mit Wolfgang Heiler, Leiter der Bezirksgruppe Heilbronn des Verbandes sowie dem Ehepaar Tommy und Resi Heimpold drei betroffene Personen anwesend, die Fragen zum Thema Blindheit beantworten und über ihr Leben mit der Behinderung berichten. berichten.

Zu Beginn des Abends gibt es für alle Gäste einige Anweisungen, um auf den Abend vorberietet zu sein. „Dunkel ist nicht gleich dunkel“, erklärt Marco Rudolf, „wenn sie im Dunkeln durch ihre Wohnung gehen, haben sie von irgendwoher meist immer noch eine Lichtquelle. Das wird hier anders sein“. In 40 Arbeitsstunden wurde für die Veranstaltung ein Restaurant des Gasthofs komplett verdunkelt. Dazu wurden rund 4x60 Meter Theatermolton (schwerer Verdunklungsstoff aus Baumwolle) und rund 30 Rollen Panzerklebeband verbraucht, die Fenster wurden vierfach abgedunkelt. 
Außerdem erklärt der Serviceleiter, wie die Gäste sich die Orientierung am Platz vorzustellen haben. Ausgegangen wird von einer Uhr, im Fall meines Getränkeglases muss ich mir also eine vor mir liegende Uhr vorstellen. „Zwei Uhr“, bedeutet, dass das Glas rechts oben steht.

Nach der Einführung geht es los. In Zweier- oder Dreiergruppen werden die Gäste durch die „Dunkelschleuse“ ins Restaurant geführt. Leichte Nervosität überkommt mich. Werde ich mich an die Dunkelheit gewöhnen? Werde ich ruhig bleiben oder in der ungewohnten Situation Angst bekommen? An Auszubildende Irina Zasid geklammert, trippele ich hinter ihr ins Lokal. Mit Ausnahme von Auszubildender Xenia Stoll, die lediglich eine winzig kleine Lichtquelle besitzt, um die Getränke auszuschenken, tragen die anderen Mitarbeiter des  Serviceteams Nachtsichtgeräte, um selbst eine Orientierung zu haben, die Gäste zu den Waschräumen begleiten oder im Notfall eingreifen zu können. Klingt leicht, ist es aber auch nicht. 14 Tage Training mit den Geräten waren für das Team nötig. Später verstehe ich auch warum: Trotz der Sehhilfe sieht man damit alles nur grünlich grau und in Umrissen.

Vorsichtig werde ich an meinen Platz geleitet. Im Laufe der ersten halben Stunde finden die anderen und ich heraus, dass wir zu siebt Tisch sind. Mit dabei: Wolfgang Heiler, der vor zehn Jahren erblindet ist und seine Frau Elisabeth, die sehend ist. Durch die Plauderei mit den Tischnachbarn vergeht die Nervosität. Dass andere Menschen anwesend sind, auch wenn ich sie erstmal „nur“ über ihre Stimmen ausmachen kann, ist sehr beruhigend. Nach Erfahrung von Küchenchef Jens Kirchenwitz dauert es immer einige Minuten, bis sich auch der Körper auf die neue Situation einstellt: „Die ersten zehn Minuten versucht das Gehirn noch, etwas zu sehen. Danach beruhigt man sich und stellt sich langsam auf seine anderen Sinne ein“.

Damit bei der Veranstaltung auch der Tastsinn der Gäste angeregt wird, hat das Team kleine Aufgaben vorbereitet. Auf jedem Tisch befinden sich Gläser und Säckchen, in die wir hineingreifen sollen und später sagen, welche Gegenstände sich darin befinden.

Zu Beginn des Essens müssen sich manche Gäste ihre Getränke selbst einschenken. Wolfgang Heiler hat dafür einen Tipp parat: „Mit einer Hand die Flasche halten, mit der anderen das Glas greifen. Dort dann die Zeigefingerkuppe ins Glas neigen – so kann man dann den Füllstand ertasten“. 
Die Vorspeise wird serviert. Es riecht auf jeden Fall lecker nach Fisch. Doch ich merke schnell, dass ich mit Gabel und Messer in kompletter Dunkelheit nicht zurecht komme. Das Essen entgleitet mir unter den Werkzeugen, wenn ich überhaupt etwas davon erwische. Nach einer Weile hilflosen Stocherns weiß ich mir nicht anderes zu helfen und befühle die Speisen mit den Fingern. Das klappt schon besser. 
Allerdings ich bin im Vorteil: Niemand sieht meine sicher barbarische Essweise. Anders als ein Blinder, der zu lauter Sehenden ins Restaurant geht. „Stellen sie sich vor, wenn dort plötzlich jemand anfangen würde, mit den Fingern zu essen“, erklärt Elisabeth Heiler und macht mir langsam bewusst, auf welche Hürden erblindete Personen stoßen .
Das weiche, aber feste Fleisch auf das ich beiße, stammt von einer Garnele, denke ich – eine Vermutung, die sich am Ende des Abends bei der Auflösung des Menüs, als richtig erweisen wird.  Anders als viele andere Speisen, bei denen die Gäste und ich raten, viele verschiedene Meinungen haben und das Essen beziehungsweise die Geschmäcker oft nicht eindeutig zuordnen können. 
Zum Beispiel könnte ich meine Hand verwetten, in der Nachspeise Eierliköreis und Beeren geschmeckt zu haben. In Wirklichkeit waren es Eis von grünem Tee und Zitrusfrüchte.
„Die Vorspeise war schwierig zum Orientieren“, sagt Wolfgang Heiler, „durch die vielen verschiedenen Dinge auf dem Teller. Bei einem Schnitzel zum Beispiel ist das leichter“. 
Tatsächlich ist es einfacher, die Hauptspeise zu finden, doch die Stücke, die ich von der Roulade abschneide, sind riesig, als ich sie in den Mund schieben will. Heilers Rat lautet, sich von Beginn des Stückes immer einige Millimeter vorzuarbeiten. Zum vollständigen Leeren des Tellers rät Tommy Heimpold, mit dem Besteck von 12 Uhr ausgehend den Teller abzufahren.

Nach dem Hauptgang „liest“ Heimpold dann zwei Texte vor. Besser gesagt, er erfühlt sie aus einem Buch in Blindenschrift (nach ihrem Erfinder auch Brailleschrift genannt). Das Buch ist ein dicker großer Wälzer. Ein Text gleicher Länge in „Schwarzschrift“ - wie die Normalschrift zur Abgrenzung von der Blindenschrift genannt wird, würde nur einen Bruchteil der Seiten in Anspruch nehmen. Mit dem ausgeliehenen Nachtsichtgerät von Marco Rudolf kann ich sehen, wie flink die Finger von Tommy Heimpold übers Papier gleiten, beide Zeigefinger hat er dafür zusammengelegt. Die unterschiedlichen Zeichen aus erhabenen Punkten erfühlen und auseinanderhalten zu können, erscheint mir fast unvorstellbar. In der Einführungsrunde hatte ich es probiert und lediglich einige Knubbel auf Papier gespürt, mehr nicht.

Dies sind alles Dinge, die auch Blinde erst mühsam erlernen müssen. Oder wie Wolfgang Heiler es ausdrückt: „Wer erblindet, wird nicht automatisch ein Superheld“. Er weißt darauf hin, dass sich zum Beispiel entgegen der landläufigen Meinung der Hör- oder Geschmackssinn nicht verbessere dahingehend verbessere, dass die Nerven sensibler würden. Doch die Konzentration auf diese Sinne nehme bei mangelnder oder geringer Sehkraft eben zu.

In der Veranstaltung wird auch das Hören im Dunkeln angeregt. Mit Musik zum Beispiel, nach der viele Gäste sagen, sie hätten sich im Dunkeln leichter auf das Klangerlebnis einlassen können als mit offenen Augen. Eine andere Aufgabe ist, das Aussehen einer Person anhand ihrer Stimme zu beschreiben. Viele orientieren sich dabei an dem genannten Namen „Fernandez“ und beschreiben den Mann als dunkelhaarig sowie dunkelhäutig – was richtig ist - und lassen sich nicht von seinem leicht sächsischen Akzent täuschen. Groß oder klein – darüber herrscht allerdings Uneinigkeit. Dass die Person eher jung ist, erkennen dagegen alle an.

Im anschließenden Abschlussgespräch mit den drei betroffenen Personen kommen Themen zur Sprache wie etwa Probleme beim Einkaufen. Wer weiß, wenn er es nicht sieht, was sich in einer Konservendose befindet und was sie kostet? Technische Geräte zur Unterstützung gibt es, manche sind allerdings umständlich oder noch nicht richtig ausgereift. Einkaufshilfen werden nur in wenigen Läden angeboten. 
Es sind Alltagsdinge wie diese, die man als Sehender nie als problematisch in Betracht ziehen würde. Oder offengelassene Türen von Küchenschränken etwa, die zur Stolper- und Stoßfalle werden können, wie Wolfgang Heiler erzählt. Ebenso problematisch sind der Umgang mit verschiedenen Master-, Kredit- und sonstigen Karten, die durch fehlende Blindenschrift schwerlich voneinander zu unterscheiden sind oder Zeitungen, die nicht online für Blinde zugänglich gemacht werden, obwohl Kosten und Aufwand dafür gering wären. Es sind Dinge, bei denen Sehende erstmal nicht auf den Gedanken kommen, dass sie Schwierigkeiten bereiten könnten.

Das Licht geht wieder an, „für drei Personen bleibt es dunkel“, wie Marco Rudolf sagt. Durch die Erfahrung des Abends, die eigene Hilflosigkeit beim Essen im Dunkeln und durch die Gespräche haben sich die Augen der Gäste allerdings – in anderer Hinsicht als das bloße Sehen etwas weiter geöffnet.